Ein Dezembermorgen auf rund 800 Metern im Bayerischen Wald beginnt oft gleich: feucht, kalt, still. Der Wald liegt unter einer dichten Nebeldecke, während die Sonne oben auf den Gipfeln bereits scheint – ein klassischer Inversionsmorgen. Unten im Tal herrscht gedämpftes Grau, Geräusche werden vom Nebel geschluckt, die Welt wirkt wie eingefroren. Oben dagegen zeichnen sich die Höhenzüge klar gegen den Himmel ab, von kaltem Winterlicht umspült.
Für viele ein guter Grund, im Warmen zu bleiben. Für Naturfotografen hingegen sind genau das jene Tage, an denen der Wald seine leisen Geheimnisse preisgibt – und mit etwas Glück auch eines der faszinierendsten: Haareis.
Wenn der Wald nicht lauter, sondern leiser wird
An solchen Morgen fehlt das Offensichtliche: keine spektakulären Fernblicke, kein Sonnenaufgang in Flammenfarben. Stattdessen zeigt sich der Wald von seiner subtilen Seite. Wer hier Motive finden will, muss langsamer werden, den Blick senken, Strukturen lesen. Der Fokus verschiebt sich vom Weitwinkel zur Makroperspektive, vom Panorama zum Detail.
Und genau dort, am Waldboden zwischen Moos und Totholz, wartet manchmal eines der flüchtigsten Naturphänomene des Winters.
Haareis – Biologie trifft auf Frost

Haareis gehört zu den unscheinbaren, aber faszinierendsten Erscheinungen der winterlichen Naturfotografie. Es bildet sich nur unter sehr speziellen Bedingungen: Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt, hohe Luftfeuchtigkeit, absolute Windstille – und vor allem morsches Laubholz, idealerweise von Buchen oder Eichen, das seit mindestens einem Jahr am Boden liegt.
Entscheidend ist ein bestimmter Pilz (Exidiopsis effusa), der im Holz lebt und den Gefrierprozess so beeinflusst, dass das Wasser nicht als kompakte Eisschicht gefriert, sondern in millimeterdünnen Fäden aus dem Holz gedrückt wird. Diese Eisfäden wachsen langsam, oft über mehrere Stunden, und behalten dabei eine erstaunlich gleichmäßige Struktur. Biologisch betrachtet ist Haareis ein Zusammenspiel aus Zersetzungsprozess, Feuchtigkeit und Frost – fotografisch wirkt es wie reine Magie.
Das Ergebnis erinnert an Zuckerwatte oder feines weißes Haar, das sich um Äste und Holzreste legt. Doch so verspielt es aussieht, so empfindlich ist es auch: Ein Sonnenstrahl, ein leichter Luftzug oder ein zu naher Schritt – und die fragile Eisstruktur schmilzt in sich zusammen. Haareis ist ein Motiv auf Zeit. Oft bleibt nur ein kurzes Zeitfenster von wenigen Stunden, meist in den frühen Morgenstunden. Genau das macht es fotografisch so reizvoll – und so kompromisslos.
Wo und wann suchen?
Die besten Chancen auf Haareis hat man in den Stunden vor und nach Sonnenaufgang, solange die Temperaturen unter null Grad bleiben und der Nebel die Luftfeuchtigkeit hochhält. Sobald die Sonne den Waldboden erreicht, beginnt das Eis bereits zu schmelzen.

Geeignete Fundstellen sind alte Buchenstämme und dickere Äste, die seit längerem am Boden liegen – erkennbar an der dunkel verfärbten, morschen Rinde. Oft findet man Haareis an der Unterseite liegender Äste oder an den Seiten von Stümpfen, wo die Feuchtigkeit vom Boden aufsteigen kann. Der Pilz bevorzugt Laubholz, daher lohnt sich die Suche besonders in Mischwaldgebieten mit altem Buchenbestand.
Ein praktischer Tipp: Wer einmal eine Stelle mit Haareis gefunden hat, kann bei passenden Wetterbedingungen oft mehrfach dorthin zurückkehren. Der Pilz bleibt im Holz aktiv, solange Substrat vorhanden ist.
Makrofotografie im diffusen Licht
An diesem Morgen blieb mein Blick bewusst am Boden. Während die Sonne lediglich die Gipfel des Bayerischen Waldes erreichte und dort für goldene Lichtkanten und fast kitschig anmutende Lichteffekte an der Nebelkante sorgte, herrschte im Wald selbst ein gleichmäßiges, diffuses Licht. Der Nebel wirkte wie ein natürlicher Diffusor – ideale Bedingungen für Makrofotografie ohne harte Schatten und Überstrahlungen.

Mit der Nikon Z8 und dem Laowa 100 mm Macro ließ sich die filigrane Struktur des Haareises präzise herausarbeiten. Ein stabiles Stativ ist dabei obligatorisch: niedrige ISO-Werte für maximale Bildqualität, längere Verschlusszeiten für ausreichend Belichtung, Spiegelvorauslösung oder Selbstauslöser, um jede Erschütterung zu vermeiden. Bei der Belichtung ist Präzision gefragt – leicht nach rechts korrigiert, damit das Eis wirklich weiß bleibt und nicht ins Graue kippt.
Manuelles Fokussieren war Pflicht, denn schon wenige Millimeter entscheiden darüber, ob die Eisfäden plastisch wirken oder flach erscheinen. Kleine Blenden sorgten für ausreichend Schärfentiefe, ohne die feine Struktur zu ersticken. Gleichzeitig ist Geduld gefragt – nicht nur beim Fotografieren, sondern auch bei der Bewegung im Wald. Jeder Schritt wollte bewusst gesetzt sein, um keine Erschütterung zu verursachen, die das fragile Eis zum Kollabieren bringen könnte.
Ein praktischer Hinweis: Bei starkem Temperaturwechsel – etwa beim Wechsel aus dem warmen Auto in den kalten Wald – beschlägt die Frontlinse der Kamera schnell. Idealerweise lässt man die Ausrüstung einige Minuten akklimatisieren, bevor man mit dem Fotografieren beginnt.
Für ergänzende Umfeldaufnahmen kam das Nikon 24–70 mm f/4 zum Einsatz. Es half, das Haareis im Kontext seines Lebensraums zu zeigen: alte Buchenreste, moosbedeckte Stämme, dunkler Waldboden, Nebelschwaden zwischen den Fichten. Naturfotografie im Bayerischen Wald lebt genau von dieser Verbindung aus Detail und Raum, aus Biologie und Atmosphäre.
Der Bayerische Wald als Bühne für leise Motive
Gerade im Winter zeigt der Bayerische Wald seine besondere Stärke. Nicht durch laute Farben oder dramatische Landschaften, sondern durch Reduktion. Nebel, Raureif, Eis und Stille formen eine Bühne für Motive, die Geduld verlangen – und Aufmerksamkeit.
Haareis ist dafür ein perfektes Beispiel: selten, unscheinbar, biologisch faszinierend. Es zwingt dazu, genauer hinzusehen und den Wald nicht nur als Kulisse, sondern als lebendiges System zu begreifen, in dem selbst Zersetzung und Vergänglichkeit ästhetisch werden.
Ein Plädoyer für Nebelmorgen
Die Fotografie von Haareis verbindet Makrofotografie, Biologie und Geduld auf ideale Weise. Sie zeigt, dass Naturfotografie nicht laut sein muss, um Wirkung zu entfalten. Gerade an nebligen Wintermorgen im Bayerischen Wald, wenn die Sonne nur über den Gipfeln scheint, entstehen die leisesten – und vielleicht ehrlichsten – Bilder.
Wer sich an solchen Morgen auf den Weg macht, braucht mehr als Ausrüstung: Respekt vor der Natur, Geduld im Umgang mit flüchtigen Phänomenen und die Bereitschaft, langsam zu werden. Das Haareis wird nicht auf einen warten. Aber wenn man es findet, wenn das Licht stimmt und die Kamera ruhig auf dem Stativ steht, dann entsteht für wenige Momente eine Verbindung zwischen Fotograf, Wald und einem Hauch von Vergänglichkeit, der sich gerade noch ins Bild retten lässt.
Und manchmal braucht es nicht mehr als ein Stück morsches Holz und die Bereitschaft, auch bei Grau und Kälte den Blick nach unten zu richten – dorthin, wo der Wald seine stillsten Geschichten erzählt.


